Cañete – Kultur, Küste und vergessene Tänze im „Valle Bendito“
Zwischen der endlosen Weite des Pazifiks und den fruchtbaren Ufern des Río Cañete liegt eine Provinz, die auf den ersten Blick von Sonne, Stränden und Landwirtschaft lebt – doch ihr Herz schlägt im Rhythmus alter Tänze. Cañete, eine der zehn Provinzen des Departements Lima im Süden der peruanischen Küstenregion, gilt als touristisches Kraftzentrum: goldene Strände, geschichtsträchtige Ruinen, charmante Badeorte und kulinarische Spezialitäten prägen das Bild. Doch hinter der Fassade aus Pisco, Landwirtschaft und moderner Industrialisierung birgt sich ein kultureller Schatz, der droht, in Vergessenheit zu geraten.
Vom Wirtschaftsmotor zur kulturellen Randnotiz
In den letzten Jahrzehnten hat Cañete stark auf Handel, Produktion und Technologie gesetzt. Der Preis dafür: Traditionen, die einst den Kern der regionalen Identität bildeten, werden immer seltener gepflegt. Dabei ist die Provinz nicht nur die „Cuna del Arte Negro“ – Wiege der afroperuanischen Kunst –, sondern auch Heimat einer faszinierenden Mischung aus afrikanischen, andinen, mestizischen und spanischen Einflüssen.
Diese Vielfalt zeigt sich in ihren Tänzen: pallas, chunchos, huañas, pascua, negritos – jede einzelne erzählt ein eigenes Kapitel der Geschichte. Unter ihnen sticht eine besonders hervor: die Danza de los Negritos Españoles, liebevoll „Jojos“ genannt.
Die Danza de los Negritos Españoles – ein verborgenes Erbe
Über hundert Jahre alt, verborgen im Herzen des Valle Bendito, ist dieser Tanz eine der wenigen Traditionen, die sich der Auslöschung entzogen haben. Er vereint religiöse Rituale mit satirischen Elementen und erzählt – verschlüsselt in Musik und Bewegung – vom Leben der afroperuanischen Bevölkerung Cañetes.
Heute wird er nur noch an zwei Orten aufgeführt:
- Quilmaná – jedes Jahr am 23. und 24. Juni zur Feier der Kreuzesfeste von San Juan.
- Lunahuaná – am ersten Sonntag im Oktober zu Ehren der Virgen de Fátima.
Seinen Ursprung hat der Tanz in Jita, einem Anexo (Ortsteil) von Lunahuaná.
Ein Tanz mit unverwechselbarer Musik
Was die Negritos Españoles einzigartig macht, ist nicht nur die Choreografie, sondern vor allem ihre Musik: zwölf festgelegte Melodien, die ausschließlich von Musikern aus Jita gespielt werden. Es gibt keine schriftlichen oder akustischen Aufzeichnungen – das Wissen wird ausschließlich mündlich und familiär weitergegeben.
Die Geigenmelodien stammen seit Generationen aus der Familie Rojas – vom legendären Patrocinio Rojas bis zum heutigen Meister Francisco Rojas. Die Harfen hingegen sind das Erbe der Familie Candela.
Kein anderer Distrikt kann diesen Tanz authentisch aufführen, was ihn zu einer kulturellen Rarität macht.
Die Pallas – anmutige Boten aus der Inka-Zeit
Ein weiterer Schatz Cañetes ist die Danza de las Pallas, tief verwurzelt im Tal von Lunahuaná. Der Name „Palla“ kommt aus dem Aymara („auswählen“) und Quechua („aufsammeln“) – eine Anspielung auf die Rolle dieser Frauen im Inka-Reich: auserwählte Begleiterinnen des Inkas, die ihn auf Reisen umsorgten.
Der Tanz wird von sechs bis acht jungen Frauen im Alter von 14 bis 16 Jahren aufgeführt – den sogenannten „Doncellas del Niño“. Ihre Bewegungen sind sanft, die Lieder hoch und melancholisch, ihre Kleidung reich verziert:
- Anaco – ein blaues Kleid
- farbiges Manto mit Bändern
- goldbestickter, breiter Gürtel
- weiße Krone
- Schuhe mit hohem Absatz
Die Pallas tanzen während der Feierlichkeiten zu Ehren des Niño Jesús, ein Fest, das bis zu vier Tage dauert und bei dem sich Tanz, Musik und die Küche Lunahuanás zu einem unvergesslichen Erlebnis verbinden.
Zwischen Vergessen und Wiederentdeckung
Ironischerweise kennt ein Großteil der Bevölkerung von Cañete die Geschichte dieser Tänze nicht. Die öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich auf afroperuanische Kultur – andere Einflüsse, wie die andin-spanischen Elemente der Negritos Españoles oder der Pallas, fristen ein Schattendasein.
Doch für jene Familien, die diese Traditionen noch bewahren, ist es eine Lebensaufgabe. Sie wissen: Die Identität eines Volkes lebt in seinen Festen, Liedern und Tänzen.
Fazit – ein Aufruf zum Erhalt
Die Tänze von Cañete sind mehr als Folklore – sie sind lebendige Geschichtsbücher, in denen Migration, Kolonialzeit, Widerstand und Anpassung nachhallen. Die Negritos Españoles und die Pallas sind keine touristische Folklore-Show, sondern Ausdruck eines tief verwurzelten kulturellen Gedächtnisses.
In einer Zeit, in der Globalisierung lokale Eigenheiten zu verwischen droht, ist es wichtiger denn je, solche Schätze zu bewahren – bevor sie, wie so viele andere, im Nebel der Geschichte verschwinden.
Titelbild: Mincetur