Welchen Zweck erfüllte Machu Picchu
Wozu diente Machu Picchu?
War Machu Picchu das finale Inka-Refugium, königlicher Kurort oder öffentliche Kultstätte? Ganz wird dieses größte Rätsel um die Inka-Stadt wohl nie gelöst werden. Entdecker Hiram Bingham ging lange Jahre davon aus, dass es sich bei Machu Picchu um die legendäre letzte Hauptstadt des einst mächtigen Reiches gehandelt habe, den finalen Rückzugsort der Inka vor den spanischen Eroberern. Historische und archäologische Funde scheinen diese These seitdem widerlegt zu haben – doch einig sind sich die Wissenschaftler deshalb nicht. Wir stellen die wahrscheinlichsten und gewagtesten Thesen zum Ursprung von Machu Picchu vor.
Machu Picchu als das „falsche“ Vilcabamaba
Hiram Bingham, der wissenschaftliche Entdecker von Machu Picchu, war mit dem Vorhaben nach Peru gereist, Vilcabamaba zu finden – die legendäre letzte Hauptstadt der durch die Spanier schon geschwächten Inka. Als Bingham auf Machu Picchu stieß, war er nicht sofort davon überzeugt, am Ziel seiner Suche zu sein. 1911 vermutete Bingham in der Inkastadt zunächst die Geburtsstätte der Inka-Kultur überhaupt. Später, nach der Analyse des Ortes und seiner Artifakte, revidierte er diese Ansicht. Nun schien es ihm am wahrscheinlichsten, dass es sich bei Machu Picchu in Wirklichkeit doch um Vilcabamba la Vieja handele. Alles schien zu passen: Die erschwerte Zugänglichkeit, die Größe, die Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten.
Tatsächlich stellte sich dieser These aber noch zu Binghams Lebzeiten als Irrtum heraus. Machu Picchu liegt zu nahe an der ursprünglichen Inka Hauptstadt Cuzco und wenn seine Architektur auch weitläufig und elaborat angelegt ist, so kann die Stätte doch nur etwa 600 Menschen bequem unterbringen.
Inzwischen ist das wahre Vilcabamaba auch gefunden. Es befindet sich in Espíritu Pampa, nahe dem Regenwald ungefähr 130 Kilometer westlich der Inka-Hauptstadt Cuzco. Ironischerweise hatte Bingham die Ruinen von Vilcabamaba 1911 selbst besucht. Er entschied jedoch, dass die etwa 20 sichtbaren Gebäude zu klein und zu wenig spektakulär seien, um als Zentrum gedient zu haben. Bei spätere Ausgrabungen in den 1960ern und extensiven kartographischen Analysen in den 1980ern stellte sich allerdings heraus, dass die ganze Stätte mit 400 bis 500 Gebäuden viel größer war, als ursprünglich von dem Entdecker angenommen.
Machu Picchu als Kultstätte der „Jungfrauen der Sonne“
Bingham und sein Team fanden eine ganze Anzahl an menschlichen Skeletten in Machu Picchu, die sie für weitere Untersuchungen in die USA verschifften. Dort wurden sie von George Eaton untersucht, der Anfang des 20. Jahrhunderts zu dem Ergebnis kam, es handele sich bei den Überresten fast nur um weibliche Knochen. Bingham formulierte daraufhin noch eine dritte Theorie zum Zweck von Machu Picchu. Die Stätte könnte, so meinte er, auch als zeremonielle Kultstätte für die „Jungfrauen der Sonne“ gedient haben – auserwählten Mädchen und Frauen, die dem Inkagott der Sonne, Inti geweiht wurden.
Die Quechua Aclla Cuna oder auch Aklya Kona lebten unter der Obhut der Mama Cuna während des Inkareiches im Zölibat innerhalb von Tempelanlagen. Sie bereiteten rituelle Mahlzeiten zu, bewahrten das Heilige Feuer und stellten Kleidung für den Herrscher und rituelle Zwecke her. Die spanischen Eroberer stießen im frühen 16. Jahrhundert auf Tausende Aklya Kona, die mit acht bis zehn Jahren in Dörfern des ganzen Inkareiches aufgrund ihrer Schönheit ausgesucht und in die Tempel verbracht wurden, die sie bis zu sieben Jahren nicht verlassen durften.
Der Sonnenbeobachtung und Verehrung kam in Machu Picchu tatsächlich ein hoher Stellenwert zu – nicht zuletzt ist der Sonnenstein Init Watana der majestätischste Punkt der ganzen Anlage. Allerdings kippte die komplette Theorie endgültig im Jahr 2000, als ein Yale Forscher die Skelett-Überreste erneut untersuchte. Sie waren, stellte sich nun heraus, mitnichten alle weiblich. Stattdessen gab es so viele Männer wie Frauen darunter, die Eaton nur aufgrund des ungewohnt kleinen Knochenbaus der Inka für weiblich gehalten hatte. Inzwischen werden die Skelette für Überreste von Bediensteten und Helfern gehalten, die sich aufgrund der eigentlichen Bestimmung von Machu Picchu aus dem ganzen Reich dort hinkamen.
Machu Picchu als Sommerresidenz
1980 fanden Historiker ein Dokument aus dem Jahr 1568, weniger als 40 Jahre nach der Eroberung Perus durch die Spanier. Es handelt sich um eine Petition der Nachfahren des Inka-Herrschers Pachacutec Inca Yupanqui und richtet sich an den spanischen Gerichtshof. Darin wird behauptet, dass Yupanqui Ländereien an einem Ort namens Picchu besessen hätte, sehr in der Nähe des heutigen Machu Picchu.
Nachfolgende Analysen der Architektur von Machu Picchu sowie der dort gefundenen Artifakte (von einfachen Töpfen bis hin zu opulenten Messingspiegeln) weisen ebenfalls daraufhin, dass es sich bei Machu Picchu um ein Berg-Ressort des Inka-Herrschers gehandelt haben könnte – eine Anlage mit allem vorstellbaren Komfort, einschließlich privaten Steinbädern, kostbarem Geschirr und sorgfältig angelegten Orchideengärten zum Entspannen.
Tatsächlich passt diese Interpretation zum Lebensstil Pachacútec Yupanquis (in peruanischer Quechua-Schreibweise „Pachakutiq Yupanki“ bzw. „Cusi Yupanqui“ oder auch „Kusi Yupanki“, was immer ‚Weltenveränderer‘ heißt), der von 1438 bis 1471 neunter Herrscher über das Inkareich und ein sehr erfolgreicher Heerführer war. Machu Picchu könnte er um 1450 als persönlichen Rückzugsort angelegt haben. Die abgelegene Lage und die ungewöhnlich herausfordernde Architektur mag sich auch durch Pachakutiq erfolgreiches Bemühen erklären, die Infrastruktur des Inka-Reiches deutlich zu erweitern und neue Technologien auch zum Erbauen von Gebäuden auszuprobieren.
Die Yale Universitätsprofessoren Richard Burger und Lucy Salazar schlugen in den 1980ern sogar vor, es handele sich bei Machu Picchu um eine reine Sommerresidenz von Pachacutec. Burger verglich sie in einer vielzitierten Analogie mit Camp David, dem Wochenendquartier der U.S. Präsidenten: Ein Ort, an dem Erholung und diskrete, politische Treffen zusammenkommen. Yupanqui hat nicht etwa nur seine Familie, sondern höchstwahrscheinlich einen ganzen Stab an anderen ‚Aristokraten‘, Beamten und Staatsbediensteten in Machu Picchu beherbergt, nicht zu sprechen von den notwendigen Bediensteten. Dieser ‚Panaca‘ leistete dem Herrscher wochen- oder monatsweise Gesellschaft, erfüllte aber auch politische Dienste.
Diese These würde auch den geordneten Rückzug aus Machu Picchu erklären, der mit keinerlei Zerstörung oder Gewaltausübung einher ging. Denn als der Inka Herrscher etwa hundert Jahre vor dem Eintreffen der Spanier starb, könnte auch Machu Picchu seinen Sinn verloren haben und vergessen worden sein. In der Inka Kultur war es ein bekanntes Phänomen, dass die Herrscherhäuser nicht weitervererbt, sondern leer gelassen wurden, wenn ihre Bewohner verstarben.
Machu Picchu als mythologischer Pilgerort
In den letzten dreißig Jahren sind allerdings akademische Stimmen laut geworden, die diesen Erklärungsansatz zwar für richtig, aber nicht vollständig halten. Einerseits ist die Positionierung auf einem Bergrücken einfach zu symbolisch für ein Volk, das Berge als Götter verehrte, um nicht auch eine spirituelle Komponente zu beinhalten.
Machu Picchu könnte im wahrsten, geographischen Sinne ein „heiliges Zentrum“ inmitten der Anden gewesen sein – denn die heiligen Gipfel, ‚Apus‘ auf Quechua, liegen unmittelbar in allen Himmelsrichtungen um die Stadt herum. Nicht nur dass: Der für die Inka-Kosmologie so wichtige Urubamba-Fluss windet sich wie ein schützendes Band um die gesamte Bergbasis, auf der Machu Picchu errichtet wurde.
Zudem sind auffallend viele der Bauwerke in Macchu Picchu zeremoniellen, heiligen Riten gewidmet. Die Inkas beteten die Natur als Ganzes und im Speziellen die Sonne an. Von oben betrachtet wird schnell deutlich, wie perfekt Machu Picchu in seine natürliche Umgebung eingebettet und wie sensibel die Architektur als Antwort auf die Umgebung gestaltet ist.
Während der Sonnenwende im Juni geht die Sonne direkt oberhalb eines Gipfels im Osten von Machu Picchu auf. Dabei schießt sie einen Lichtstrahl durch ein Fenster des spektakulären, halbrunden Sonnentempels, wo er ein perfektes Rechteck abbildet. Einige Archäologen glauben, dass der Sonnenstein an dieser Stelle einst eine goldene Statue des Herrschers Pachacutec beherbergte.
In diesem Zusammenhang wird der berühmte Inka Trail als Pilgerreise interpretiert, die allen Inka die Möglichkeit geben sollte, in Machu Picchu an zeremoniellen Festen teilzunehmen. Er könnte die Reise der Inka-Urahnen vom Titikakasee in Bolivien bis zur spätere Hauptstadt Cuzco symbolisieren. Machu Picchu wäre laut dieser Interpretation ein öffentlicher Ort der Verehrung und eine kosmologische Kultstätte gewesen.
Bis vor kurzem haben sich fast alle historischen, archäologischen und ethnologischen Erklärungsversuche für den Zweck von Machu Picchu entweder auf einen pragmatischen oder einen spirituellen Ansatz gestützt. Aktuell setzt sich immer mehr die Überzeugung durch, dass diese beiden Zwecke innerhalb von Machu Picchu vielleicht Seite an Seite existiert haben. Die Inka unterscheiden nicht zwischen Kirche und Staat; ihre Religion war holistisch angelegt und betonte die Integration von Himmel und Erde, Natur und Mensch. Hinzu kam, dass jeder Inka-Herrscher zugleich heilig war – und dass seine Wohn- und Regierungsstätte so ebenfalls durch seine reine Anwesenheit geheiligt wurde.
Sicher werden wir nie wissen, wozu Machu Picchu ursprünglich erbaut wurde und welchen Zwecken es im Laufe seiner Geschichte diente. Aber jeder Besucher wird von der mysteriösen, spirituellen Präsenz der Bauten und der atemberaubenden Örtlichkeit Machu Picchus sofort derart in den Bann gerissen, dass diese Ruinenstätte der Inka auch heute noch wie eine natürliche Kathedrale wirkt.